Arschlochpaul
Paul Klütenbieter hockte als Referatsleiter für Jugend, Sport, Kultur aufm Altenteil. Die von der Sicherheit hatten angeordnet, dass er als Stellvertretender Produkßionsleiter eines ßweigbetriebs abgesetzt wurde.
Paul hätt för den Leegen gebürgt, hätt hei nich taukünnt, bliw äwer bi em hängen. Sin bestet Pier in Stall, Jöchi Mallbregen, den hei as sin Nofolger an sine Bost nahrte, wir fahnenflüchtig worden:
Sin Fru wir en Verwandtenbeseuk na dröben genehmicht worden und de dumme Köksch kümmt nich wedder trüch. Häbm ok bloß teinwest utrikt, so doof wiese wäst wir. Hätt Bohnenkaffe schnabuliert und Seidenstrümpe köfft un bliwd dor. Hei up Parteischaul un sei mokt dat se nich wedderkümmt– Schietbütel ok.
Dat wir nu nauch verkiehrte Welt? Äwers nich bi Jöchi: Min Jöchi, de Rappel, mokt Utrieseantrach mit Begrünnung Familientausammenführung, hei wull er achteran. De Göhren brukten ehr Modder. Sullse doch trüchkumm, dor hättens ehr Modder wedder. Hättens ok gliek lihrt, wat man mit de Olsch moken deit: Eentwee Jährchen Frugensknast in Waldheim und denn ab inne Produksion. Dor hürt se hin. Äwers min Jöchi wull mit ehr in Westen tausommen kümm. Anstatt dat hei froh wir, dat hei sun subversiven Trampel losward, so een Verräterdussel, dat sine Kinner nich mir unner ehre Fuchtel kümm. Nu wull hei noch achteran schickt warden.
Sone Öllern bruken de Kinner nich: Smieten ehr Läwn uppn Mässhupen un löpen öwer up de anne Siet. Un moken dat in hellichten Sünnschien, dat allens taukieken künn. Schietbütel ok mit dat Utriesen, Verbäden un Inspunn, dat wir bäder, äwers sgeit nu anners.
Da blieb den Genossen keine Wahl, da ßählten keine Verdienste mehr, sein Kopf war gerollt.
Kurz bevor Paul als Stellvertretender Produktionsdirektor abgelöst wurde, ereignete sich ein Vorfall, der seinem ambitionierten Vorgänger den Kopf kostete, was für den gerade seines Amtes enthobenen Paul wiederum zumzur BewährungsstrafeParteiauftragGlücksfall wurde.
Arschlochpaul hatte seinen Ruf weg als unkultivierter und gehorsamer Parteisoldat und erschien der Kombinatsleitung als kompromissloser Säuberer gerade Recht, der den Kultursumpf trockenlegte, der Schande über das Kombinat gebracht hatte. Der Verruf, in den das Kombinat durch seine Kulturschaffenden geraten war, wurde durch einen Offenen Brief an den Zirkel Schreibender Arbeiter bekannt gegeben, der im Bezirksorgan erschien. Infolgedessen gabs den Zirkel nunichmehr.
Den Verrufsartikel hatte sich Paul damals ausgeschnitten und in seiner obersten Schreibtischschublade obenauf gelegt, damit er bei Beschwerdeanrufen der aufgelösten ArbeiterSchreiberZirkelMitglieder griffbereit damit argumentieren konnte.
Paul verstand ohnehin nicht, was das sein sollte: ein schreibender Arbeiter. Entweder arbeitete man am Schreibtisch, dann war man Angestellter in der Verwaltung, kein Arbeiter. Oder man hatte studiert und war schon deshalb kein Arbeiter, dann war Schreiben nur Mittel zum Zweck, aber nicht die Arbeit selbst. Wenn man Arbeiter in der Produktion war, überließ man das Schreiben den anderen. Wenn ein Arbeiter den Auftrag bekam zu schreiben, dann konnte das nichts Gutes bedeuten.
In diesen sogenannten Zirkeln Schreibender Arbeiter aber wurde über in der Freizeit freiwillig verfasste Gedichte diskutiert oder wurden sogar lange Erzählungen vorgelesen: Wozu sollte das nützen? Für Paul war das verplemperte Zeit. Ein Arbeiter hatte ein ausrangiertes Sofa in der Laube seines Kleingartens oder eine Bank im Schuppen übern Hof, auf der er nach Feierabend oder am Wochenende ein Nickerchen machte oder eine Flasche Bier trank. So erholte sich ein Arbeiter, dachte Paul.
Kein Wunder, dass man mit ZirkelSchreiben aneckte und sich einen Offenen Brief einhandelte. Schließlich war der Offene Brief so etwas wie ein indirekter Genickschuss:
Die, an die er gerichtet war, die sollten gerichtet werden. Nicht vom BriefeSchreiber, nicht vom BriefeAbsender, nicht vom BriefeDrucker, nicht vom Nichtvom, sondern vom Vorgesetzten. Derdie im Brief beschriebenen Misstände duldete, erlaubte, nicht verhinderte, begünstigte, der war ungenannt mit am Pranger und hatte nur noch eine Chance, sich zu retten: Den Delinquenten sofort liquidieren. Letzte Maßnahme ohne Widerspruch: SäuberungsaktionRatzekahlschlagRadikalkur. So waren die Gepflogenheiten, die jeder verstand.
Paul verstand nicht jeden Satz des Offenen Briefes im Bezirksorgan, weil ihm das Buch, das angegriffen wurde, nicht bekannt war. Das hätte noch gefehlt.
Also hatte er seinen Dienstzimmertürschlossschlüssel von Innen herumgedreht und mühsam halblaut buchstabierendentzifferndlesend ihmsovorkommende SchlüsselSätze entschlüsselt und mit Lineal und Bleistift unterstrichen: Der Absender schrieb:
72 Kunstdruckseiten Eures Büchleins offenbaren soviel ungute Zufriedenheit.
Der Arbeiter, der seine Drehmaschine ausrückt oder aus dem Schacht ausfährt, kennt erregende Unzufriedenheit, wenn er das Werk der Nacht in Augenschein nimmt.
ist dem ganzen Zirkel in seiner ganzen Tätigkeit Selbstzufriedenheit vorzuwerfen.
Ihr kritisiert Euch und feilt, doch Eure „Geschichte eines Zirkels“ liest sich, als wärt Ihr stehengeblieben.
Ihr berichtet in einer Art, die unter der Würde der Arbeit ist.
Es sind Sammlungen von Äußerlichkeiten, kleine Jahrmärkte der Eitelkeit, die Euer Buch ausmachen, nicht mehr.
Der Leser will jedoch anderes wissen im Zentrum unser sozialistischen Volkskunst.
Nicht ein einziges Wort zum Inhalt eurer Tätigkeit, kein sinnfälliger Hinweis zu entdecken, wie denn dieses Talent schafft, kein Wort erfährt man, was denn nun die Arbeiterinnen dazu gesagt haben.
Viele Schriftsteller haben euch geholfen. Weshalb habt ihr keinen Autoren zum ständigen Berater gewonnen? Lässt das ein gewisses Glänzenwollen, eine gewisse Furcht vor intensiverem Qualitätsstreben nicht zu?
Vermisse ich wenigstens 3 Dinge:
Euer politisches und künstlerisches Credo, Eure Methoden, Eure Wirkung auf Leser und Zuhörer.
Warum teilt ihr nicht mit, worin euer Ziel beim Erziehen und Lernen im Zirkel und bei Eurer schöpferischen Arbeit besteht?
Handelt ihr wie wir, die wir uns um ideologische Probleme und aktuelle politische Tagesfragen auseinandersetzen?
Kümmert ihr euch um den nationalen Kampf in Deutschland?
Schreibt Ihr zornige, aufrüttelnde Geschichten und Prosastücke gegen die Revanchisten und gegen den schmutzigen amerikanischen Krieg?
Seid Ihre es gewohnt in heißen Gesprächen über gegenwärtige Konflikte der Jugend, neue Aspekte der Leitungstätigkeit in unserem Staat, Erfahrungen aus der sozialistischen Gemeinschaftsarbeit und andere aktuelle Themen zu streiten?
Hört Ihr Vorträge über den sozialistischen Realismus oder die technische Revolution?
Tretet bescheidener auf!
Von Auseinandersetzung lese ich in Eurer „Geschichte eines Zirkels“ kein Sterbenswort.
Paul versah den Posten als Referatsleiter für Jugend, Sport, Kultur bei der Kombinatsleitung umsichtig darauf bedacht, nicht aufzufallen und die Bewährungsfrist unbeschadet zu überstehen.
Als Verkehrspolizist aus dem VorAmpelzeitalter auf dem gefährdeten KabinenPodest in der Mitte der Straßenkreuzung als bevollmächtigte Amtsperson mit dem schwarzweißen Verkehrsstab die vorbeifließenden Verkehrsströme ohne anzuhalten durchwinken:
Die Jugendangelegenheiten wurden an den Jugendverband geleitet, die sportlichen Belange wurden zu den Betriebssportgemeinschaften gelenkt und die kulturellen Dinge schickte er weiter an die Kulturgruppen, Singeklubs, Amateurtheater, Kulturhäuser, die an den Produktionsstandorten angeschlossen waren. Nur der Zirkel Schreibender Arbeiter, der Dichterklub, der bekam nichts mehr zugewiesen, denn den gabs nicht mehr.
Paul verteilte die Mittel je nach Antrag und Plan: Was nicht eingeplant war, konnte nicht beantragt werden und wurde nicht genehmigt. Natürlich konnte längst nicht alles, was geplant war, auch umgesetzt werden, da musste Paul berichtigen, straffen und streichen, sodass aber die Planziele stets zu Hundertprozent erfüllt wurden, auch in Jugend Sport Kultur.
Paul Klütenbieter stammte aus dem Ostseedorf Kieserow. Dort war er nach dem Kriege aufgewachsen, ohne Vater, der war an der Front gefallen. An Entbehrungen und Hunger erinnerte er sich, wenn er an die Nachkriegszeit zurückdachte. Die wohlhabenden Verwandten, die ein eigenes Boot besaßen oder die mit eigenem Acker und Vieh, die brauchten nicht hungern, er dagegen schon. Paul fand das von klein auf ungerecht.
Darum lernte Paul nach der Achten im Schiffsmotorenwerk. Nach der Lehre delegierten ihn die Genossen zum Fernstudium, darauf war er stolz gewesen. Aber er hatte das inihngesetzte Vertrauen nichtgerechtfertigt. Den Ingenieurstoff hatte er einfach nicht zu fassen gekriegt, Mathematik, Mathematik, nichts als Mathematik, er verstand es nicht. Und das Fach „Deutsch für Fernstudenten”, Ostrowski, Fadejew, Polewoi, Simonow: Wer war das? Was sollte das? Wozu brauchte man das? Er hasste die Unterrichtsstunden.
Nach 3 Jahren Quälerei teilte die Prüfungskommission Paul mit, dass er aufhören musste. Die Wiederholungsklausuren vom ersten Jahr hatte er nicht bestanden. Aber die Genossen im Werk ließen ihn nicht fallen, einige Jahre später auf der Parteischule gings besser. Zwar war das große Reden nicht grad seine Stärke, aber man vertraute seiner ehrlichen, proletarischen Ausstrahlung. (ParteiArschloch mit Parteiabzeichen im Jackenaufschlagknopfloch.)
Paul hatte sich als wichtigste Aufgabe die Wiedererweckung des Betriebsferienlagers in Kieserow gestellt und wusste sich jeder Rückendeckung sicher, die Mittel für die Kultur umzuverteilen und dem Ferienlager zuzuschanzen, denn schließlich bedeuteten die Kinder die Zukunft. Mit Erik Brenner als Lagerverantwortlichen glaubte er einen Volltreffer gelandet zu haben und ließ ihm freie Hand bei der Organisation.
Wie sich zeigte, brachte Pauls neue Ausrichtung in JugendSportKultur für viele Beteiligte Vorteile:
Das Betriebsferienlager Kieserow war bei den Kindern mit Abstand das beliebteste und jedes Jahr meldeten sich mehr Kinder an als die Kapazitäten hergaben. Erik hatte Betreuung und Versorgung mit allerlei Beziehungen gut organisiert zum Beispiel zur Pädagogikhochschule oder zu den örtlichen Einrichtungen oder zu den Nachbarn. Paul erfuhr das auch von anderer Seite, schließlich war er in Kieserow zu Hause und da wusste er Bescheid. Wenn für Küche oder Reparaturarbeiten, Anbauten oder Umbauten Arbeitskräfte für das Ferienlager abzustellen waren, meldeten sich mehr Freiwillige als er gebrauchen konnte. Den Einsatz sahen die Helfer gut und gerne als Kurzurlaub an der Ostsee an und für gute Bekannte hatte Erik zweidrei Gästezimmer herrichten lassen.
„Hallo Erik? Hier Paul.“ „„Hallo Paul.““ „Na, wie geit die dat?“ „„Möt, möt.““ „Alles gesund?“„„Joh. Bloß Leichtverwundete, ein dicker Fuß, eine Fleischwunde, einmal Ohrenschmerzen vom Baden. Nix besonders.““ „Schön zu hören. Bettwäsche aus der Wäscherei klappt?“ „„Jo, klappt, mokt doch diene Dochter.““ „Klappts mit der Essenversorgung?“ „„Kloor, allet im Griff.““ „Habt ihr ordentlich Obst?“ „„Frischet bätten, poor Koähnäppel giwt dat, suss Plummen utn Glas.““ „Die Ferienhelfer machen ordentlich mit?“ „„Geit geit.““ „Die Gruppenleiter von der PeeHah alle angereist?“ „„ßwei fehlen, is schon gemeldet, aber geht auch ohne se.““ „Und bei der Technik?“ „„Nix Dramatisches, den Auspuff vom Beetausend hat Siggi geschweißt, geht aber Ende ßu. Die Fußbodenfliesen im Duschraum heben sich und springen, können sich die Kinder schnell mal was tun, da brauchen wir 5 Kartons aus Boizenburg.““ „Ick kümmer mich um. —
Warum ich anrufe, min Jung, es gibt hier einen Hinweis, keine Beschwerde, versteh das nicht falsch, min Jung, da hat ein Knirps nach Hause geschrieben, dass sie nachts noch Ausflüge machen können, also dass ihr nicht richtig aufpasst, die Nachtruhe nicht kontrolliert wird. Die Gruppenleiter sollen abends regelmäßig einen drauf machen.“ „„Wecken seggt dat?““ „Naja, min Jung, Namen sage ich dir jetzt nicht, spielt auch keine Rolle.“ „„Wenn du mir nicht sagst, wer das war, dann kann ich auch nichts unternehmen.““ „Erik, min Jung, stell dich nicht so an, du weißt doch wie das ist. Du machst doch Gruppenleiterbesprechungen?“ „„Mokt Siggi.““ „Dann machst du das ab sofort selbst! Und sag einfach, dass die Nachtruhe besser kontrolliert werden muss und die Studenten sollen es nicht übertreiben, haben doch das ganze Jahr ihr lustiges Studentenleben. Das tut keinem weh und das Bürschchen kann seinen Eltern schreiben, dass die Ausflüge vorbei sind.“ „„Wenns das bringen soll.““ „Geh einfach mit gutem Beispiel voran, min Jung, das schaffst du schon. Nicht dass Erika wieder Leute aufscheucht.“ „„Hat Erika was damit zu tun?““ „Hab ich nicht gesagt und ist nicht so. Leiw Jung, geh mit gutem Beispiel voran und alles ist im Lot.“ „„Wie du meinst.““ „Also, min Jung, man tau, ich muss hier weiter machen, ich verlass mich auf dich, halte deinen Laden zusammen.“ „„Der Pflicht vergessen wir Fische nie.““ „Wat häst säggt?“ „„Nix von Bedüdung.““ „Atschüss.“
Kopfschüttelnd legte Erik auf. Stumm stand das vergilbte ElfenbeinPlastikGehäuse des Telefonapparates. Er fragte sich, was das gerade sollte. Unwillkürlich verschränkte er die Arme vor der Brust. Die Hände versteckte er unter den angenässten Hemdachseln. Nachdenklich starrte er auf die leere Schreibtischplatte vor sich. Ein einzelnes Bündel Sonnenstrahlen brachte den Staub der Luft wie feinen Niesel zum Glitzern.
Am anderen Ende der Leitung legte Paul Klütenbieter auf. Er wendete sich dem Sicherheitsbeauftragten zu: „Zufrieden? Reicht das so, Genosse?“
Der rechtfertigte sich: „Was hast du? Wir tun alle nur unsere Pflicht, ich habe die Sorge eines verantwortungsbewussten Vaters mitgeteilt bekommen und den Auftrag, dafür zu sorgen, dass sich etwas ändert. Wir tun alle nur unsere Pflicht.“
Der Sicherheitsbeauftragte drückte mit seiner tabakbraunverbrannten Mittelfingerkuppe seine verglimmende, bis zum braunweißgesprenkelten Zigarettenfilter aufgerauchte Alte Juwel in die schwarze Teerkruste am Boden des Kristallglasaschenbechers. Ohne Arschlochpaul anzuschauen murmelte er „Mahlzeit“ und ging.