Abruf
Zumschneidendicke Zigarettenblaudunstschwaden füllten den Raum, als Erik das Dienstzimmer von Paul Klütenbieter betrat. „Ich dachte, du darfst nicht mehr rauchen?“ fragte er verwundert. Paul zog die schwarzverkeimten Zähne seines kurzen Taschenkammes von der Stirn zum Hinterkopf durch seine fettigklebrigen Haare und presste die Haarspitzen von 2 Seiten zwischen Kamm und Handfläche zu einem Entenarsch zusammen. Weiße Punkte auf seiner Schulter strich er mechanisch ab. Er steckte KammZähne mitsamt Dreckdazwischen neben den Knopf in die brieftascheverbeulte rechte Gesäßtasche.
Bereits im Spätsommer trug Paul einen dünnen, dunkelblauen SilastikRollKragenPulli. Zerknittertes Rauchergesicht zusammengekniffen, saugte er den letzten Zug Qualm durch seine Alte Juwel ein. Rotaufleuchtende Glut fraß sich in den hellbraunen Filter hinein in Richtung seiner gelbverfärbten Lippen.
Paul antwortete regungslos: „„verlatt dat Denken gseite Ld un mok dat Sott tau, hbm si tu Hus Se vr de Dr? Du wolltest mit mir reden, also: man tau. So vl tiet hv i ni.““ Er quetschte die glimmende Filterglut mit der hornbraunen Mittelfingerkuppe aus, verkippte den schwarzverkrusteten Aschenbecher in den Tretmülleimer und ließ ihn in der Schublade verschwinden. „Stimmt es, dass ihr mich absetzen wollt?“ „„Htt hei allwedder wat dat? Von weggen wit du dat hrt hbn?““ „Es stimmt also und du fragst nur noch, woher ich Wind davon habe. Dein Anruf vor ein paar Wochen im Lager, das hörte sich so an, als ob jemand hinter dir stand.“ „„Un dat fllt die jetz up? Wegen dat i die poor Woen tr anropen dei? Dat glw slben ni.““ blockte er geschickt ab. „Was wollt ihr eigentlich von mir? Ich habe das Ferienlager dort in Ordnung gebracht, was war denn vorher? Kraut und Rüben, Dreck und Unkraut überall, wenn ich nicht gewesen wäre, dann wäre das heute noch so. Ihr wollt doch der Jugend zeigen, wie toll es hier ist, den Kindern was bieten und die Eltern vom Weggehen zurückhalten. Das war vorher ein vergammeltes Lager und keiner hat sich drum gekümmert. Eure tollen Blauhemden wollten nicht mehr hinfahren, sind lieber in schicke Gästehäuser gefahren, als die eigenen Unterkünfte zu pflegen. Haben alles verkommen lassen. Seit Jahren racker ich dort, um was Vernünftiges auf die Beine zu stellen. Urplötzlich hat jetzt irgendeiner von den faulen Blauhemden entdeckt, dass er sich da bei mir ins gemachte Nest setzen kann. Bootet mich aus mit irgendwelchen fiesen Machenschaften.“ Paul unterbrach ihn harsch: „„Sperr deine Löffel auf und hör mir genau zu: Es gab Beschwerden und da musste man nachgehen. Bist du aufgefordert worden, eine Stellungnahme abzugeben?““ „Nicht direkt.“ „„Lieber Erik, rück e so fort raus mit der Spra che, was los ist. Sonst geh und komm erst her, wenn du weißt, was du willst!““ „Siggi Dürkopp hat angerufen, dass 2-Im-Trenchcoat sich im Lager umgeschaut haben. Die haben sich vorgestellt, dass sie von der AhBeeIh kommen und wollten die Arbeits- und Lebensbedingungen der Mitarbeiter im Ferienlager begutachten. Haben sich Waschräume, Küche, Toiletten, alles zeigen lassen, sogar meine Wohnung.“ „„Die Genossen der AhBeeIh tun nur ihre Arbeit. Dazu gehört es hin und wieder die Einrichtungen zu kontrollieren. Das heißt doch nicht, dass dich jemand absetzen will.““ „Hat der eine aber nebenbei so gemeint. Als Siggi mich direkt anrufen wollte, da hat einer gesagt, das wäre nicht mehr nötig. Siggi hat ihn daraufhin gefragt, ob ich denn nicht mehr Leiter des Ferienlagers wäre, da hat der Typ gesagt: ,Na so ungefähr.‘ Vielleicht kannst du mir sagen, was das zu bedeuten hat?“ „„Bleib mal schön ruhig. Was der Genosse im Lager gesagt hat oder nicht, was Siggi Dürkopp dort verstanden hat oder nicht, das lassen wir mal ganz beiseite. Jeder macht seine Fehler und jeder hat seine Chance, die Fehler einzugestehen und Selbstkritik zu üben. Auch du. Willst du das?““ „Selbstkritik üben? Das ist ja wie bei Stalin. Was wollt ihr eigentlich? Soll ich Fehler zugeben, die ich gar nicht gemacht habe? War es vielleicht ein Fehler, das Ferienlager auf Vordermann zu bringen? Okay, man ist kein Engel, sondern ein Mann wie viele andere auch, aber dann arrangiert ein Trainer, dass ich seine Sportlerin flachlege, dann rufst du an, angeblich gibts Beschwerden wegen der Nachtruhe, dann kommt Erika nachts unangemeldet ausgerechnet mit Stasi-Bruni und haut 10 Minuten später wieder ab, weil sie glaubt, ich hätt was ausgefressen. Dann kommt der Doc und macht mit der Kraftathletin einen Schwangerschaftstest, dann kommt der Schulleiter, ich soll mich vorsehen, die Burschin hatn Freund: Was ist eigentlich los, wer blickt da durch?“ „„Trenn mal Privates vom Beruflichen! Alle tun nur ihre Arbeit.““ „Das ist alles? Das soll wirklich alles sein, was du dazu sagst?“ Paul schaute ihn fest an, so wie er schon viele angeschaut hatte, deren Köpfe er rollen sah: „„Ja.““
Paul hörte, wie die Tür ins Schloss fiel und lauschte, ob sich Eriks Tritte entfernten.
Stalin, dachte Paul, was weiß der schon von Stalin, bei dem hätte es diese blödsinnigen Ausreiseanträge nicht gegeben, dann säße er nicht hier auf dem Abstellgleis und müsste sich dem Brenner sein Gequatsche anhören, dann wäre er immer noch Stellvertender Produktionsdirektor, würde Verantwortung tragen und würde mit gestandenen, treuen Mitarbeitern wirkliche Probleme meistern; an neuen Lösungen tüfteln, wie man kleine Dinge mit den großen Wirkungen verbessern könnte. – Aber der Brenner? Musste im Interhotel die feine Dame unterhalten, verdrehte dem dummen Ding von Sportlerin den Kopp und seine Olle lief von Pontius zu Pilatus, um alles breitzutreten. Konnte seinen Dings nicht im Stall lassen, gabs die Quittung dafür. So ist das Leben. GottseiDank. Sollte bloß nicht glauben, dass es sein Verdienst allein wäre, dass das Ferienlager wieder in Schwung gekommen war. Bildete sich noch ein, er wäre unersetzlich, als er schon abgesetzt war. Es is immer ßselbe, ob die Arbeiterdichter, die Ausreiseanträge, das heimliche Vergnügen: Harmloser Anfang und dann läuft alles ausm Ruder, man darf das gar nicht erst zulassen, so isses, war Paul sich ganz sicher.
Keineschritte waren vom Flur zu hören. TROLLhervorziehend unter der Schreibtischauflage grübelte er angestrengt nach einer GATTUNG DER AFRIKANISCHEN BLATTSCHNEIDERAMEISEN.
Er kam nicht drauf. Seufzend musste es der Spickzettel richten, den er aus der untersten Schreibtischschublade hervorkramte:
Atta