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Carla tippelte den Treppenaufgang hinauf, der aus den Katakomben der Tribünenkabinen herausführte. Abgeblätterte Leimfarbe und abgerieselte Putzkrümel schneiten auf die Stufen. Humpeltick ohne Felder, Gummitwist ohne Gummi tänzelte sie um den Unrat herum und nutzte so den Aufstieg zur Erwärmung (Ehrten ihn, indem sie sich nützten, und hatten ihn also verstanden. BRECHT!).
Vom Hörensagen kannte sie eine Geschichte: Eine Delegation von Westfunktionären besuchte den Leipziger Sportclub und dabei auch die Schwimmer, Olympiasieger und Weltmeister und Weltrekordler, die den Amerikanern regelmäßig das Nachsehen gaben. Die Schlipsträger wurden im Winter zum Freibecken am Zentralstadion geführt, das wie jeden Winter mit einer Blechhütte überdacht war. Wie auf Baustellen dienten zwei überdimensionale Heißluftventilatoren mit vergitterten Riesenrotoren groß wie Hubschrauberpropeller als Hallenheizung. Die Typen von Drüben fühlten sich verkackeiert und wollten die richtige Schwimmhalle sehen, die, in der die Olympiasieger wirklich trainierten. Danach ging im Westen das Gerücht um, dass die Leipziger Superschwimmer eine SuperSchwimmhalle hätten, die wäre so geheim, dass sie niemand zu sehen kriegt. Die konnten nicht begreifen, dass man im Osten nur die Wahl hatte aus Scheiße Bonbon zu machen. Sone Scheiße wie die abbruchreife Treppenwand von vorm Weltkrieg.
Piotrowski hatte sich seit der Ankunft im Stadion verzogen, er hätte irgendwas zu regeln. War Carla recht so, in ihrer erwartungsvollen Anspannung hätte er sie mit seiner Anwesenheit und seinem nervigen Gerusse nur runtergezogen.

Piotrowski redete seit Montag kein Wort zuviel. Carla hatte das Training geschwänzt und das Wochenende um einen Tag verlängert. Seit der Versöhnung mit Erik war sie jede Nacht im Ferienlager und am Sonntag hatte sie Keinbock auf Aufstehen in der Nacht. Also blieb sie liegen. Sie war erleichtert, dass ihre ungewohnt feste Muskelspannung nachließ. Endlich konnte sie sich ungefähr mit der Geschmeidigkeit dehnen, die sie von sich gewohnt war. Nicht ganz, aber es kam annähernd hin. Das wochenlange Krafttraining mit den hohen Dosen, so einen beständig hohen Muskeldruck kannte sie überhaupt nicht von sich. Andererseits waren ihre Kraftwerte schon toll, das hatte sich gelohnt, so stark war sie noch nie, da war sie sehr stolz drauf. Sie hatte Selbstvertrauen zum Bersten und würde auf dem Platz sehrsehrweit werfen.
Am Montagfrüh wurde sie von Erik auf den ungeputzten, abgestanden riechenden Mund geküsst, sie schämte sich, es war ihr peinlich, aber Erik verschloss ihren Mund mit seinen Lippen, steckte sogar seine Zunge für lange Zeit zwischen ihre Zähne und inhalierte ihren Dunst. Ergeben ließ sie ihn, war ja nichts dabei. Dabei schob er eine Hand nach unten und kraulte mit den Fingern die Schlingpflanzen in ihrem Tropenwald, der den neuerdings dauerabstehenden Klittfelsen umstand. Verschlafen fragte sie ihn:
„Gehts schon wieder bei dir, du hast doch gerade erst aufgehört. War aber lange, das war richtig schön.“ „„Du kannst erstrecht lange, ja, war schön.““ „Kann ich ja nicht wissen, wenn die Jungs eben fertig sind, dann hören sie auf.“ „„Deine Sportlerjungs machen es immer kurz und bündig, oder?““ „Ja, meistens.“ „„3mal rausundrein und schnell gespritzt? Da verpassen sie aber das Beste.““ „Die haben so ihre Phasen, dann müssen sie mal und dann gehts schnell. Is ja nix dabei. Geht mir genauso.“
Als sie später auf die Uhr schaute, war die Frühstückszeit für ihren Durchgang im Speisesaal vorbei. Dafür servierte Erik ein Frühstückstablett mit dampfendem Kaffe, dem teuren Monakaffe, den es nur ungemahlen als Kaffebohnen gab, musste man immer erst mahlen, nicht wie die Mitropaplempe in der Sportschule, die schmeckte wie Sägespänefix mit Muckefuck, dazu Brötchen Butter Schinken Leberwurst – so wurde sie von Erik verwöhnt.
Das Vormittagstraining schwänzte sie, Schwimmen stand aufm Plan, naja zur Lockerung. Schwimmen war nicht unbedingt ihr Fall, mit ihrer Muskelmasse lag sie tief im Wasser, ihr Sportlehrer meinte scherzhaft, sie wühlte sich durchs Becken wie ein eiserner Ofen, hoffnungsloser Fall. Sie wühlte sich heute lieber mit Eriks Becken durch Eriks Betten.
Erik meinte, wenn Ficken besser lockert als Schwimmen, dann ist Ficken auch Training, quasi Trainingsmittel, also fürn guten Zweck. Wenn sie beim Wettkampf gewinnen tät und Siege im Sport zur Sicherung des Friedens beitragen täten: Dann würden sie sogar ficken für den Frieden. Sie lachte über die Übertreibung und hatte dabei ein gutes Gefühl.
Für morgen, Dienstag, stand die letzte spezielle Wurfeinheit auf dem Programm und Carla wusste am Montag schon, dass sie gewaltig gut drauf sein würde und bis dahin nur Geschmeidigkeit und positive Anspannung beibehalten brauchte.
Товариш Trainer stellte sie Montagnachmittag zur Rede, aber mehr als gegenseitige Beleidigungen brachten beide nicht zustande:
„Haste Schwimmen geschwänzt und sollste morgen locker sein. Bestes Mittel mit Schwimmen, aber Frau Carla kommts nich.“ „„Bestes Mittel? Da hab ich noch Besseres. Davon bin ich jetzt locker und brauch das Schwimmen nicht.““ „Was soll sein – Mittel?“ „„Nrichtiger Mann, das macht mich locker. Nich wie du, wenn de verstehst.““ „Nee nich versteh, was soll heißen?“ „„Trainer, ich war den ganzen Tag im Bett, verstehste?““ „Wie - ganzes Tag im Bett? Da kommt faul und träg und unlocker und unelastisch.“ „„Also wenn des genau wissen willst: Wenn man vögeln, bummsen, ficken tut, du Blödmann, aber das kennste nich und kannste nich mehr.““ „Hat keine Zweck jetzt reden, morgen 11 Uhr ist spezielle Wurftest, da musste zeigen, dassde kann.“
Carla zeigte es ihm und schleuderte alle 5 Speere hinter die aufgestellten Kegel, der letzte stand bei schätzungsweise 65 m, da kam sie um eine Speerlänge drüber. Nachmessen war nicht, weil nicht abgekreidet war und Bandmaß lag auch nicht aus, denn: Wer wollte schon eine Siebzigmeterstahlbandmaßrolle abwickeln und hinterher beschwerlich wieder aufwickeln, das hieß säubern, trocknen und einfetten, Piotrowski nicht und Carla auch nicht. Ihre Vorgaben hatte sie dicke erfüllt, was wollte Piotrowski mehr. Sie traute Товариш Trainer sowieso nicht über den Weg und wusste, dass er gern mit den Kegeln rumtrickste: Manchmal stellte er sie kürzer, als er ansagte und wollte das Selbstvertrauen stärken, manchmal stellte er sie länger, als er zugab, damit man sich mehr anstrengte. Dabei glaubte er noch, Carla würde das nicht merken. Nach dem Streit am Montag tippte sie, dass er die Kegel länger gestellt hatte, aber sicher konnte man sich bei Piotrowski nie sein. Das war am Dienstag.

Heute war Freitag und der alles entscheidende Testwettkampf stand an. Gestern Abend noch hat sie ihm gutgelaunt das Pullerröhrchen gebracht, „warm noch“, hat er nur gebrummt. Carla war aufgekratzt, es ging los.
Als sie vom Tribünenausgang auf das Spielfeldbraungraugrün unter ihr blickte, war sie bedient und ihre Stimmung trübte sich. Die Kampfrichter trugen über ihren weißen Kampfrichteranzügen, die aus weißen Anstreichermalerarbeitsleinenhosen oder weißen Krankenpflegerärztehygieneschutzhosen und dicken, weißen Baumwolltrainingsjacken bestanden, durchsichtige PlasticRegencapes mit spitz aufgerichteten Kapuzen.
Aufs TribünenBlechdach trommelte der Platzregenschauer staccatissimo. Zuschauer waren weitundbreit nicht zusehen, nicht bei dem Regen. Scheiße, dachte sie, auf dem vollgesaugten Tartan rutschte man schnell aus. Klitschnass würde man beim Aufwärmen auf dem Nebenplatz werden. Skipping, Kaugummikauen und Gymnastik, so versuchte sie sich unterm Tribünendach in Schwung zu bringen, so weit ihr das unter ihren 2 wärmestauenden Trainingsanzügen notwendig erschien.
Endlich knarzte aus den Lautsprechern der ersehnte Aufruf zum Speerwerfen und Carla zog mit ihren beiden Wettkampfspeeren und ihrer Sporttasche zum Stellplatz am Marathontor. Endlich durfte sie den letzten Schritt zu ihrer WehEmm gehen, endlich. Sie würde es jetzthierundheute allen zeigen.
Sie meldete sich bei einem spindeldürren, uralten Schreiber, der unter einem vom Sonnenschirm zum Regenschirm umfunktionierten, verblichenen Stofffetzen saß, der bei seiner Herstellung womöglich orangeblau gefärbt war.
„Klittmann.“ Warf Carla ihm ihren Namensbrocken hin.
„Die Männer fallen aus, zu gefährlich.“ Gab der Dürre kurz angebunden von sich und musterte Carla von unten.
„Carla! Carla Klittmann!“ Sagte sie drohend und halblaut.
„Ja wenn das so ist.“ Ergab sich der Alte und begann die Startkarten durchzublättern. Doch der Spindeldürre fand ihre Startkarte nicht in seinem dürren Stapel.
Nachdem er eine Weile begriffsstutzig unter seiner Brille hervorgeschaut hatte, sagte Carla zu ihm: „Vielleicht kuckste mal drinne, vielleicht ist die runtergefallen. Muss ja irgendwo sein.“
Der Begriffsstutzige verstandundverschwand für eine Weile mit seinem StartkartenStapel ins Orgbüro. Carla stand im Regen und ein nicht aufzuhaltender Groll braute sich in ihrem Bauch zusammen und trat gegen ihre Euphorie im Kopf an. Selbst zur Wettkampfmeldung war Piotrowski zu dämlich.
Als der Schreiber zurückkehrte, hob er die Schultern und hatte Carlas Startkarte nicht gefunden. Genervt und vorsichhinfluchend kramte sie aus ihrer Tasche eine leere Startkarte, schrieb sie unterm Schirm aus und drückte sie dem Spindeldürren wortlos vorwurfsvoll in die Hand. Der wischte seiner Brille die Regentropfen ab und begann die Angaben auf der Startkarte zu studieren.
Da platzte Carla der Kragen: „Machste das zum ersten Mal? Noch keine Startkarte gesehen? Ich denke de bist Kampfrichter.“
Der Uralte drehte die Karte in der Hand und klopfte sie auf die Fingerspitzen: „Ich weiß nicht, ich weiß nicht, ob das so einfach geht nach Meldeschluss. Könnte ja jeder kommen und hier teilnehmen.“
Carla brüllte die Schreiberbrille an: „Da gehste mal zum Wettkampfleiter, du Neunmalkluger. Soll der dir erklären, was du zu machen hast.“
Aus dem Orgbüro erschien eine weitere Plastikkapuzenzipfelmütze, schaute sich die Startkarte an und nickte zum Schreiber: „In Ordnung. Die Sportlerin Klittmann ist dabei, das ist hier ein republikoffenes Sportfest ohne Meldefrist. Darf ich um die Wurfgeräte bitten?“ Er ging in die Unterführung hinterm Marathontor um die Speere mit einer Kartoffelwaage zu prüfen. Wortlos kam er zurück und übergab die Geräte an Carla.
Der Regen hielt an und der Abmarsch zur Speerwurfanlage verzögerte sich. Carla hatte beim letzten Wettkampf ihre Speerhülle eingebüßt, einfach liegengelassen. Als sie 1 Stunde später danach suchte, war sie natürlich schon verschwunden. Konnten andere auch gebrauchen. Sie hatte es nicht geschafft, sich von irgendwo eine neue zu besorgen. Mit solchen blöden Kleinigkeiten musste man sich herumschlagen. Der Lappen, den sie als Regenschutzersatz um die Griffwicklung geknotet hatte, wurde vom Kampfrichter nach dem Wiegen oberhalb der Griffwicklung angebracht. Das Naturfaserband der Wicklung saugte sich voll Wasser, ohne dass Carla es bemerkte.
Mit Carla zusammen warteten 6 weitere Teilnehmerinnen, darunter auch die JuniorenMeisterin und eine NationalmannschaftsMehrkämpferin. Man begrüßte sich flüchtig und hielt Abstand voneinander.
Endlich ließ der Regen nach und die 7 Kampfrichterherren kamen aus dem Orgbüro: „Wir fangen mal an, wenns zu rutschig wird, müssen wir noch mal unterbrechen.“
7 Kampfrichter:
[3 Mann fürs Messen, davon
1 Null, 1 Balken, 1 Mitte,
2 Richter mit roter und weißer Fahne,
der 1. am Balken: übertreten=ungültig=rot/
nicht übertreten=gültig=weiß,
der 2. für den Abdruck im Rasen: innerhalb des 30°-Wurfsektors=gültig=weiß/außerhalb=ungültig=rot/
Speerspitzenabdruck im Rasen sichtbar=gültig=weiß/
nicht sichtbar=ungültig=rot,
1 Schreiber,
1 Helfer, um den Speer aus dem Sektor zu holen.
Den Rücktransport mussten die Aktiven selber übernehmen. Der Kampfrichter mit den Fahnen am Abwurfbalken war der Hauptkampfrichter und las die Weite vom Stahlbandmaß ab und rief sie dem Schreiber zu. Für jeden Wurf wurde man vom Schreiberkampfrichter aufgerufen und hatte 2 min Zeit um ihn auszuführen.]
Der Regen verstärkte sich wieder und in aller Eile wurde das Einwerfen beendet. Der erste Durchgang begann und man warf in der üblichen Reihenfolge: die Schwächeren zuerst, die Stärkeren zum Schluss. Schließlich war Carla an der Reihe. Zur Orientierung war nur 1 Weitenkreis abgekreidet und der war nicht einmal bezeichnet. Carla schätzte, dass es die 60-m-Marke war. Ihr erster Wurf blieb kurz vor dem Kreidekreisbogen im Rasen stecken. Die Juniorin rutschte bei ihrem ersten über den Balken hinaus – ungültig.
Carlas zweiter Wurf landete kurz hinter dem ViertelKreidekreis. Die Juniorin danach warf mit einem gewaltigen Schrei ihren zweiten Speer ab – weit, aber verrissen, außerhalb. Carla atmete durch, Piotrowski hatte sie in den letzten Tagen ein ums andere Mal unter Druck gesetzt, dass sie gewinnen musste, sonst wäre die Nominierung in Gefahr.
Doch Carla traute ihren Augen nicht: Der Kampfrichter weit entfernt auf dem Feld hob die weiße Flagge. Dabei hatte sie es doch ganz genau gesehen, dass der Speer erst hinter der Sektorbegrenzung in den Rasen schrammte. Der Wurf war 1 Meter weiter als Carlas Zweiter und Carla hatte die Führung verloren. Die Juniorenmeisterin stieß einen Freudenschrei aus und wollte die ungläubig neben ihr stehende Carla umarmen: „Ich hab die Norm, ich hab die Norm.“
Carla wehrte sie heftig ab und die Konkurrentin landete in einer Pfütze. Aufgebracht stapfte Carla auf den Hauptkampfrichter zu und schnauzte ihn an: „Da musste mal deBrille putzn, die hat nKnick inner Optick: Der Wurf war weit draußen.“ Der Hauptkampfrichter ermahnte Carla ruhig zu bleiben und schickte sie weg. Also musste sie im nächsten Wurf alles einsetzen, was sie hatte.
Carla wurde zum dritten Durchgang aufgerufen. Zornig entschlossen ging sie zur Ablaufmarke und dehnte ihre Schultern zur Vorbereitung und Konzentration. Sie setzte einen Fuß mit der Fußspitze auf und begann das Fußgelenk um die aufgesetzte Spitze kreisen zu lassen. Sie warf ihren Kopf in den Nacken und legte ihn mit geschlossenen Augen nach links auf die Schulter und zog mit der linken Hand den Kopf noch weiter der Schulterspitze entgegen. Danach ließ sie den Kopf kreisen, wobei ihre Halswirbel reihenweise knackten. Im Anschluss wiederholte sie die Prozedur zur rechten Seite, wieder mit geschlossenen Augen. Sie öffnete die Augen, federte den Speer in der rechten Hand weit zurück.
Sie suchte ihre Markierung auf dem Boden und wollte gerade 2 Schritte auf sie zugehen. Da meldete sich der Wettkampfsprecher über die Lautsprecheranlage und gab die Unterbrechung aller laufenden Wettbewerbe bekannt. Der Hauptkampfrichter hob die rote Fahne und brach den Wettkampf ab. Carla lief mit dem Speer in der Hand zum Abwurfbalken und protestierte beim Hauptkampfrichter: „Einen Wurf noch, ihr habt mich doch schon aufgerufen. He, wenn ich aufgerufen bin, dann kann ich auch werfen!“
Die Plastikkapuzenzipfelmützen räumten ihre Gerätschaften unbeeindruckt zusammen und sammelten sich um den Schreibertisch. Die Werferinnen zogen sich an und packten ihre Sachen zusammen.
Carla war wütend, sie zog sich nicht wieder die Regenjacke über, sondern tippelte zurück zur Anlaufmarke, konzentrierte sich kurz und lief an. Die Kampfrichter erstarrten und die anderen Werferinnen verharrten und verfolgten Carlas Anlauf.
Die schwernasse Griffschnur gab ihrer Wurfhand das Gefühl, sie hätte den längeren dickeren schwereren Männerspeer beim Wickel
(den sie aus Schabernack nach Trainingsschluss gern den Jungs, dies eilig nach Hause hatten, stiebitzte und mit voller Kraft in den Himmel wuchtete, die Jungs mussten dann aus vierzig50meter ihren Speer einsammeln, Carla lachte und machte das nichts!, was Piotrowski regelmäßig auf die Palme brachte, denn sie konnte sich verletzen und eine falsche Technik einüben — und wenn schon, Carla neckte nun mal gern die Jungs und es machte ihr Spaß das schwere Ding rauszuhauen.). Deshalb sendete die Griffhand zu Beginn des Wurfes an alle Muskeln den sensomotorischen Befehl: ,Großer Speer heute - alle mal mitmachen und größere Kräfte mobilisieren als normal! Das Ding wiegt 200 g mehr!’ Hatte sie normalerweise das Gefühl, den größten Teil der Speerbeschleunigung aus Wurfarm und Schulter zu leisten, so gelang ihr heute ein flüssiges harmonisches Ineinandergreifen, Aneinanderanschließen von Impulsen aus den Beinen, über die Hüften, den Rumpf, in den Armzug. Der Speer verließ mit einem laut fauchenden Peitschen die Wurfhand, das Hinterteil des Speers zappelte wie der Schwanz eines flüchtenden Aals hinter der Griffwicklung hinterher und der ganze zappelige Aal stieg und stieg mit flachem Anstiegswinkel weit über die Kronenflucht der Stadiontraversen hinaus. Nach dem Steigen senkte sich die Speerspitze verzögert wie in Zeitlupe in Richtung Erdboden, als ob sie gar nicht mehr runter wollte. Das Gerät landete fast wie ein Gleitflieger, nur die Hülsenspitze wies nach unten, weit hinter dem Fünfundsechzigmeterkreidebogen, vielleicht 70 m weit oder noch weiter, um auf dem Regenrasen bis zur Ruhelage weiterzurutschen.
Nach dem Abwurf hielt sie sich auf dem rechten Bein und fiel nicht in den Regendreck, sondern behielt den Speer mit verbohrtem Willen im Auge, sie wusste, dass sie alle Kraft genau auf die Mitte der nassen vollgesaugten Wicklung des dünnen schlanken Speers übertragen hatte, sie hatte genau dieses einmalige Gefühl, dass der Speer die Verlängerung ihres Willens war, dass er keinen Millimeter abwich und vollundganz ihr gehorchte, dieses Mal nicht widerspenstig links oder rechts auswich, nicht zu steil die Spitze in den Himmel bohrte und nicht zu früh wieder zur Erde abbog: Er war perfekt getroffen und trieb von ihrer Energie getrieben wie eine Rakete in den Himmel.
Carla schrie den entgegenkommenden Kampfrichtern zu übers Feld, dass der Wurf vermessen werden sollte. Sie reckte beide Arme, rief verzweifelt „heeheeheehee“ und wies mit gestreckten Zeigefingern auf den Speer.
Aber niemand reagierte, niemand kümmerte sich darum den Landepunkt zu fixieren, niemand lief mit der Nullmarke zur Schramme auf dem Feld, niemand vermaß den Wurf. Der Wettkampfsprecher wiederholte eindringlich seine Aufforderung an das Kampfgericht, alle Wettbewerbe sofort zu unterbrechen.
Carla fiel der Ersatzspeer in die Hand und sie drosch ihn in Rage auf die Bank. Der LeichtMetallkörper knickte in seinem Plastikmantel ab und blieb in einer Regenpfütze liegen.
Geschlossen marschierten Kampfrichter und Wettkämpferinnen vom Platz. Im Stadiontunnel angekommen, wurde der Abbruch des Sportfestes wegen des Dauerregens verkündet. Der Speer, mit dem sie mehr als 70 m weit geworfen hatte, blieb im Wurfsektor liegen. Sie holte ihn nie mehr vom Feld.

Völlig irritiert stand Carla im Tunnel. Die Konkurrentinnen zogen ab. Nassjacke, Feuchthose, Durchgeweichtschuh – niemand weitundbreit. Hierheuteundjetzt sollte sie ihre Nominierung bestätigen, aber niemand kümmerte sich um sie. Sie hatte ebengerade Siebzigmeter geworfen und niemandwollte daswissen. Eine WehÄmm-Teilnehmerin, fürdiesich niemand interessierte? Keinverbandstrainer, Keinauswahltrainer, Nichtmalpiotrowski. Erstjetzt dämmerte ihr, dassetwas nichtstimmte.
Tränen salzten die Regentropfen in ihrem Gesicht. Allein stapfte sie durch den Kabinengangmatsch aus Regenwasser, Dreckfusstappsen, abgeblättertem Anstrich und abgerieseltem Verputz.

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